15.06.2016
„Freudenscheren“ in Wettmar und Berlin
„Ein Mühlstein und ein Menschenherz wird stets herumgetrieben.
Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben.“
Das schrieb der deutsche Barockdichter Friedrich Freiherr von Logau (1604 – 1655) und spielte darauf an, dass sich Mahlsteine abschleifen und selbst zerstören, wenn sie sich ohne Mahlgetreide drehen. Doch als Dichter schrieb er nicht über Mühlentechnik, sondern nahm diese Allegorie, um deutlich zu machen, wie sehr auch ein Menschenherz ein anderes Herz braucht, um sich an ihm zu „reiben“. Wo wird das nicht deutlicher als in der menschlichen Liebe? Denn eine positive Gefühlsspannung zwischen zwei sich liebenden Menschen schafft Höhen im gemeinsamen Leben und hilft Tiefen zu überwinden. Diese Erfahrung gilt für viele Lebenssituationen und bildet den Hintergrund, wenn ein gemeinsames Leben mit Zukunftsperspektive begründet wird, zum Beispiel bei der Hochzeit.
Die Müller früherer Zeiten kannten dieses und hatten besondere Signale, um ihre Umgebung auf traurige oder freudige Ereignisse aufmerksam zu machen: Sie drehten die Windmühlenflügel in eine bestimmte Stellung und die Bauern wussten: Eine lange Pause, eine kurze Arbeitsunterbrechung, ein trauriges oder ein freudiges Ereignis wird bekannt gegeben.
Am Freitag, dem 10. Juni 2016, wurde an der Bockwindmühle Wettmar von den Müllerkollegen Lothar Blume, Axel Heckler und Jürgen Gnörich in der traditionellen „Mühlensprache“ die „Freudenschere“ eingestellt: Einer der Windmühlenflügel zeigte auf einen Punkt, vergleichbar der Eins auf einem Uhrenzifferblatt. Denn es ging darum, das freudige Ereignis einer Hochzeit mitzuteilen, da die Tochter eines ihrer Müllerkollegen, R. Tegtmeier-Blanck und seiner Frau A. Blanck, im fernen Berlin heiratete. Die Tochter und ihr Lebenspartner hatten sich entschieden, dass sich ihre Herzen auch zukünftig weiter aneinander „reiben“ sollten.
Damit dieser Ausdruck der Müllertradition dem Brautpaar in Berlin-Friedrichshain auch sichtbar würde, kam moderne Technik zum Einsatz: Die Wettmarer Müller, gekleidet mit weißem Müllerhemd und Mütze, und fertigten von ihrer Aktion ein Handyfoto an und schickten es dem Paar mit Glückwünschen und dem Gruß „Glück zu“ als Überraschung durch den Äther. –
Ganz kurzfristig war dem neuen „Müller-Brautvater“ jedoch vorher noch aufgegangen, dass andere Berliner dieses wichtige Zeichen aus Wettmar bedauerlicherweise nicht sehen könnten. Was war dagegen zu tun? Kein Problem, die Internationale der heutigen Müller funktioniert: Eine Mühle war schnell gefunden, die Britzer Mühle, eine einhundertfünfzig Jahre alte Holländermühle, eine der beiden funktionsfähigen Windmühlen Berlins (http://www.britzer-muellerverein.de/), die im Bereich Neukölln / Buckow, ca. 12 km von Friedrichshain entfernt gelegen ist. Sie ist eine weithin bekannte Mühle mit vielen Attraktionen. Neben dem Mühlentypischen gibt es ein angegliedertes Restaurant und regelmäßige Heiratsmöglichkeiten in der Mühle.
Der Griff zum Telefon erfolgte und ein Anruf beim Vorsitzenden des Mühlenvereins, Michael Schillhaneck, mit der Bittte um Einstellung der „Freudenschere“ und um ein Foto von dem Ereignis. Die Zusage kam spontan und so erfuhren die Hochzeitsgäste am Abend von dem ihnen nicht bekannten Müllerbrauch und konnten auf dem Handy sehen, wie gleichzeitig auf dem Dorfe wie in der Großstadt über den neuen Lebensabschnitt des Brautpaares „berichtet“ wurde.
Text: Reinhard Tegtmeier-Blanck
Fotos: Axel Heckler und Reinhard Tegtmeier-Blanck Von: Jonas Kurtze